I. Das Corpus
Erweitertes Corpus
Das Corpus wurde aufgrund von quantitativen Kriterien erstellt : Es umfasst jene volkssprachigen Erbauungswerke, deren Popularität im Mittelalter durch eine grosse Anzahl Handschriften bezeugt ist. Als minimale Überlieferung für eine Berücksichtigung im Corpus wurde festgelegt, dass von einem Werk mindestens 80 handschriftliche Textzeugen erhalten sein müssen.
Diese Grenze wird für einzelne volkssprachige Erbauungstexte in fünf Sprachräumen überschritten : im französischen — langue d’oïl —, im englischen, deutschen, niederländischen und italienischen. Das « OPVS »-Projekt hat sich in einem ersten Schritt damit beschäftigt, eine Bestandesaufnahme jener etwa 20 Texte zu machen, die in diesen fünf Volkssprachen verfasst oder in diese übersetzt wurden, um sich in einem zweiten Schritt auf die vier ersten zu konzentrieren.
Eingeschränktes Corpus
Das eingeschränkte Corpus umfasst jene volkssprachigen religiösen Texte, die den grössten Erfolg hatten, was durch das Erfüllen der folgenden Kriterien als gewährleistet angesehen wird : Überlieferung in mindestens drei der untersuchten Sprachregionen einerseits, Anzahl der erhaltenen Handschriften in über 80 Exemplaren in mindestens einer der vier Sprachen andererseits. Folgende Texte wurden damit in das eingeschränkte Corpus übernommen :
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Das Büchlein der ewigen Weisheit von Heinrich Seuse (mehr als 100 deutsche Handschriften) und die volkssprachlichen Übersetzungen des Horologium sapientiae
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die Übersetzungen von Jacobus' de Voragine Legenda aurea (115 Hss. auf Niederländisch) ;
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die Übersetzungen der Meditationes Vitae Christi des Pseudo-Bonaventura (ca. 80 englische Hss. )
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die Übersetzungen der Vitas patrum (ca. 115 deutsche Handschriften)
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Frère Laurent, La Somme le roi ou Livre des vices et des vertus und die englischen und niederländischen Übersetzungen dieses Textes (105 Handschriften fürs Französische)
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Guillaume de Digulleville, Le Pelerinage de vie humaine und die deutschen, englischen und niederländischen Übersetzungen dieses Textes (mindestens 83 französische Handschriften).
II. Methoden und Ziele
I) Untersuchung des erweiterten Corpus
Es wird darum gehen :
1) ein für das christliche Mittelalter vollständiges Verzeichnis der erfolgreichsten volkssprachigen Erbauungswerke zu erstellen ;
2) eine Bestandesaufnahme der Handschriften zu veröffentlichen, die diese Werke überliefern.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die nach und nach in die Dateibank « Jonas » (http://jonas.irht.cnrs.fr) eingetragen werden, sind der gesamten Forschungsgemeinschaft zugänglich.
II) Das eingeschränkte Corpus
Anhand des eingeschränkten Corpus werden grundlegende Untersuchungen durchgeführt.
Die Handschriften, in denen die sechs Werke des eingeschränkten Corpus überliefert sind (siehe supra vorherige Seite) werden mit überlieferungsgeschichtlichen Methoden (Codicologie, Philologie, etc.) untersucht. Es wird so weit wie möglich darum gehen, deren Produktionszeit und -ort sowie deren mittelalterliche Besitzer — Individuen oder (religiöse) Institutionen — zu bestimmen. Die Zusammenstellung der dadurch erhaltenen Ergebnisse ermöglicht eine vergleichende Studie zu den Modalitäten der mittelalterlichen Überlieferung dieser Texte.
Das Ziel des « OPVS »-Projektes besteht darin, die Produktionszentren, den Austausch und die Leserschaft volkssprachlicher religiöser Handschriften zu bestimmen. Indem das intellektuelle Profil einer grossen Anzahl mittelalterlicher Leser, deren religiöse Praktiken und die Wertschätzung ihrer Erbauungswerke eruiert werden, soll das « OPVS »-Projekt ein neues Licht auf diesen bedeutenden Teil des Büchermarkts werfen. So wird beabsichtigt, die Wirkung der volkssprachlichen religiösen Literatur im spätmittelalterlichen Westeuropa aufzuzeigen.